Vortrag im Alten Pfarrhaus Wernswig am 10. Juli 2023. Anlass war die Ankündigung der Stadt Homberg (Efze) einer Veranstaltungsreihe im Jahr 2024 zum 500. Geburtstag von Hans Staden, der im 16. Jahrhundert ein Buch über Brasilien schrieb.
Auf der Webseite der Stadt ist zu lesen:
Hans Staden: Wahrhaftig eine „wilde Historia“
Staunen Sie über die spannenden Erlebnisse von Hans Staden in Brasilien
Der in Homberg um 1525 geborene Hans Staden reiste 1548 als Landsknecht in Diensten
portugiesischer Siedler in das bereits als „Brasilien“ bekannte brasilianische Küstengebiet
und kämpfte dort 1549 bei Pernambuco (Recife) gegen aufständische Indianer.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte mich kurz vorstellen:
Als Kind lebte ich vier Jahre mit meinen Eltern in der damaligen britischen Kolonie Hong Kong und besuchte eine englische Schule. Dort hatte ich Freunde aus der ganzen Welt und in der Kolonie sah ich die soziale Ungleichheit: die Armut unter den Chinesen auf der einen Seite, das tolle Leben der Ausländer auf der anderen. Mein Traum war dadurch, irgendwann die ganze Welt kennenzulernen.
Mit 18 verließ ich das Elternhaus und begann eine Ausbildung bei der Seefahrt. In den Ländern besuchte ich nicht nur touristische Orte, die es zudem nicht in allen Häfen gab, sondern auch die Orte, wo ich die „normalen“ Menschen traf. In Chile war ich zu Zeiten der Diktatur unter Pinochet mit Kollegen auf einem Weinfest. Irgendjemand bekam mit, dass wir Deutsche waren. Die Chilenen bezahlten alles, was wir aßen und tranken. Wir, die ein Mehrfaches verdienten, hatten keine Chance. Ich ging in den Ländern in die normalen Lokale zum Essen, bekam Kontakte zu den Menschen. In Afrika wurde ich gar einmal von einer Familie zu einem Abendessen in einem Armenviertel eingeladen.
Es war zu sehen, dass manche Menschen keine Chance in ihrer Gesellschaft haben und wenn sie noch so intelligent sind. Ich selbst hatte das Glück, damals in Deutschland geboren worden zu sein und gute Schulen besucht haben zu können. Das Beängstigende einer Diktatur erlebte ich mit Pinochet in Chile, den Einfluss der 1. Welt zum Beispiel durch Bayern bzw. Franz-Josef Strauß in Togo und vieles mehr.
Aber ich erkannte auch, dass wir viel von anderen lernen können, auch von sogenannten Primitiven. Es sind halt Erfahrungen, die Menschen aufgrund einer anderen Lebensweise in einer anderen Umgebung machen und ihre Lebensweisen prägen. Wir „Gebildeten“ sollten die Augen weiter öffnen und uns nicht nur touristische Schönheiten anschauen, sondern viel mehr.
Die Maya, Azteken und Inkas waren in einigen Dingen den Europäern weit voraus. So in der Astronomie. Ich sah etwas aus der Inka-Zeit und erfuhr, dass sie bereits Operationen am Schädel durchführen konnten, die die Menschen damals überlebten.
Im Jahr 2006 landete ich per Zufall in Brasilien, in der Metropole Campinas, 100 km von Sao Paulo entfernt und begann dort immer mehr zu entdecken. Meine Ex-Schwiegereltern in Niedersachsen haben einen Hof, der seit 500 Jahren in den Händen der Familie ist. Ich stellte mir immer vor, wie das Land früher aussah. So dann auch in Brasilien. Ich fand Ruinen alter Fazendas, die Häuser wurden noch aus Steinen gebaut. Es waren also Zeugnisse erster Besetzungen durch die Europäer.
Wie haben es diese Europäer, die aus der Armut in ihrer Heimat flohen, zu solch einem Wohlstand geschafft? Das denke ich immer, wenn ich solche großen Anwesen mit Herrschaftshäusern sehe. Natürlich haben sie sich das alles bauen lassen, durch Sklaven. In Campinas gibt es sogenannte „adlige Familien“, die sich für etwas Besseres halten. Nachkommen armer Einwanderer!
Die Andenregion war beim Eintreffen der Europäer hoch entwickelt, aber warum nicht der gesamte Rest Südamerikas? Das beschäftigte mich sehr lange. Kontakte gab es unter den Völkern, denn es gab Verbindungen, wie zum Beispiel vom Pazifik über Cuzco in Peru bis hin zum Atlantik. Über 3000 km durch den Urwald!
In vielen Regionen Brasiliens gibt es uralte Spuren des Menschen. So im Nationalpark Cavernas do Peruaçu im Norden des Bundesstaates Minas Gerais. Hier fand man bis zu 11.000 Jahre alte Skelette sowie Spuren dieser früheren Bewohner, bis zu 40 m hohe Felsmalereien in den riesigen Höhlen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalpark_Cavernas_do_Perua%C3%A7u
Anfang der 2000er Jahre fand man gar im Amazonas Spuren von großen Siedlungen mit Straßenverbindungen und sogar Brücken zu anderen Siedlungen. Es lebten Millionen Menschen in dem Gebiet. Und dann kamen die Europäer, schleppten Krankheiten ein und sie hatten bessere Waffen mit Kugeln. Was blieb den Indigenen übrig, um zu überleben? Sie mussten sich zurückziehen, sich verstecken und ihre Lebensweise den neuen Bedingungen anpassen, in kleinen Siedlungen leben.
Von den alten Orten blieb praktisch nichts übrig. Nichts war aus Steinen oder anderen dauerhaften Materialien gebaut, sondern Holz und Lehm wurden genutzt. Keramiken verschwanden in der Erde. Was man jedoch immer wieder fand, war Terra Preta, schwarze Erde. Während der Boden im Amazonas nährstoffarm ist, ist diese Erde extrem reichhaltig daran. Untersuchungen ergaben, dass sie von Menschenhand erschaffen wurde und zwei bis dreitausend Jahre alt sind. Damit war an manchen Orten die Lebensmittelversorgung für bis zu zwanzigtausend Menschen gesorgt.
Inzwischen gibt es Initiativen, diese schwarze Erde zu verwenden, wie zum Beispiel in Brandenburg. Dünger wird nicht mehr benötigt. Hierzu finden sich Informationen in der Linkliste.
Wer war Hans Staden?
Hans Staden wurde um 1525 in Homberg geboren und verdingte sich als Landknecht an portugiesische Siedler. Er kämpfte 1549 bei Pernambuco (Recife) gegen „aufständische Indianer“, wie er erzählte. Anschließend war er mit Spaniern in den Süden Brasiliens unterwegs, machte dort viele weitere Erfahrungen. Unter anderem wurde er von Indigenen gefangen genommen und sollte verspeist werden wie er in seinem Buch „Warhaftig Historia“ 1557 publizierte.
Aufständische Indianer! Wer kann aufständisch sein? Doch nur, wer untergeben ist. Wie fühlen sich Menschen, wenn andere auf ihr Land eindringen und es besetzen? Wer ist hier im Recht gewesen?
Kolumbus suchte damals den Weg nach Indien im Westen und bei der Ankunft in Amerika vermutete er, dort gelandet zu sein. Daher der Begriff Indianer oder Indios. Indios wird auch heute noch im Portugiesischen verwendet, wobei beides falsch ist. Heute sollten wir von Indigenen sprechen. Indigene sind nämlich die Nachfahren von Menschen, die als erste eine bestimmte Region bewohnt haben.
Wie bereits im Fall Amazoniens beschrieben, brachten die Europäer für die Indigenen tödliche Krankheiten und Waffen mit. Es ging ihnen um die Eroberung von Land und Schätzen, weltweit. Und immer vorne dabei war auch die katholische Kirche. Den Caminho de Peabiru nach Cuzco gingen auch die europäischen Eroberer auf der Suche nach Gold und sie vernichteten dafür das Inka-Reich. Auf ihrem Weg kamen sie immer wieder in Regionen, die reich an Bodenschätzen waren.
In Brasilien selbst wurde eine Straße von Paraty bei Rio de Janeiro bis weit ins Landesinnere gebaut, die Estrada Real (Königliche Straße). Die über eintausend Kilometer wurden mit Steinen befestigt, so dass man bei Regen nicht durch Schlamm gehen musste. Es war ein Weg der Besiedlung durch die Europäer, auf der Suche nach Edelmetallen. Über sie wurden Gold und Diamanten zur Küste und dann weiter nach Europa gebracht.
Die katholische Kirche
Bei Besuchen in den Städten entlang der Estrada Real wundert man sich über die große Anzahl an alten Kirchen und Kapellen. Verschiedene katholische Gruppierungen, Jesuiten, Franziskaner und andere, bauten ihre Kirchen. In der Stadt Ouro Preto wurde mir dann klar, wie vorgegangen wurde: Oben auf einem Hügel stand bereits eine Kirche einer katholischen Gruppierung. Auf dem Weg dorthin baute eine andere ebenfalls eine Kirche. Wer sich nicht den Weg zum Gottesdienst nach ganz oben machen wollte, ging also in die davor. Diese Gruppe gewann also Gläubige und damit auch Gaben, oft Gold und Edelsteine.
Und so ging es immer weiter, bis heute. Vor einigen Jahren stolperte ich über eine Meldung der katholischen Kirche in Brasilien: im Jahr zuvor seien x indigene Dörfer bekehrt worden, es müssten nun im laufenden Jahr mehr werden. Kann man nicht Menschen und ihre Lebensweise, ihre Kultur, ihre Religion achten und vielleicht etwas von ihnen lernen? Die Indigenen betrachten alles als Teil der Natur. Nur zusammen funktioniert es und deshalb gibt es bei den meisten Völkern auch keine Diskriminierung. Alle sind gleich, ob Frau, ob behindert, ob schwul, lesbisch oder ob Mann. Bei vielen Völkern gibt es auch Kazikinnen, also weibliche Anführerinnen.
Die Corona-Pandemie begann unter der Regierung von Jair Bolsonaro, der den Schutz indigener Völker zurückfuhr, die zuständigen Behörden schwächte, damit Bergbau und industrielle Landwirtschaft ausgebaut werden können. Auch medizinische Hilfe für Indigene wurde zurückgefahren. Ich startete ein paar Hilfsaktionen, bat in meinem Freundeskreis in Deutschland um Spenden. Meine Freundin Márcia Kambeba gab mir Kontakte zu Dörfern verschiedener Völker. So erfuhr ich auch, dass sich die katholische Kirche zurückgezogen hatte! Gerade jetzt, wo sie Hilfe gebraucht hätten!
Vor rund zehn Jahren lernte ich im Großraum von Sao Paulo zufällig einen Kaziken des Volkes der Kalapalo mit seinen Töchtern kennen. Sie zogen aus dem Xingu dorthin, um die Argumentationsweisen der Weißen kennen und verstehen zu lernen und diese dann selbst in ihrem Interesse anzuwenden. Die Kalapalo leben seit Jahrhunderten pazifistisch und sie überlebten! Sie haben lediglich stumpfe Waffen zur Verteidigung und töten nicht einmal ein Tier. Ausnahme sind Fische, die sie als etwas anderes sehen.
Staudämme und indigenes Land
Während dieser Zeit wurde der Bau des Belo Monte Staudamms begonnen, dem drittgrößten Staudamm der Welt. Die Regierung versprach Wohlstand für die Region und dass Brasilien mehr Strom benötige. Dafür verloren indigene Völker ihr Land. Was soll solch ein großes Projekt am Rande des Xingu, doch recht weit weg von industriellen Gebieten?
Ich fand heraus, dass dort eine Aluminiumhütte geplant war. Bei der Produktion von Aluminium werden viele umweltschädliche Stoffe freigesetzt vor Allem Säuren. Deshalb ist die Alu-Industrie in den vergangenen Jahrzehnten in entlegene Regionen der Welt umgezogen. Greenpeace Deutschland entstand einst aus einer Initiative gegen die Aluhütte in Hamburg-Altenwerder. Selbst die Deckel der Öltanks im Hamburger Hafen wurden von der Säure zerfressen und wurden regelmäßig ersetzt. Fensterglas von Wohnungen in der Region war von Säure geschädigt.
Ebenso warnten Wissenschaftler vor dem Bau weiterer Stauseen im Amazonas, da durch das Abholzen und Überschwemmen Wald verschwinden würde. Durch den fehlenden Wald im Amazonas würde im Südosten und Süden Brasiliens der Regen wegfallen, der wirtschaftlich wichtigsten Region mit Industrie und Landwirtschaft.
Es gab landesweit Demonstrationen gegen den Bau des Belo Monte Staudamms, auch in Sao Paulo. Insbesondere Indigene waren dabei. Ich erlebte, wie manche Weiße zu Indigenen sagten, dass sie keine seien, denn sie wären ja wie Weiße gekleidet. Was wäre gewesen, wenn sie sich wie auf ihrem Land gekleidet hätten, mit nicht verdeckten Brüsten?
Auch beim Bau des Itaipú-Staudamms bei den Wasserfällen von Iguaçu, der einst der größte der Welt war, wurde indigenes Land zerstört. Selbst heute noch leben Indigene unter ärmlichen Verhältnissen teilweise gar am Straßenrand, ohne Land. Ihnen wurde das Land einfach geraubt.
Manche Völker haben mehrere Orte zum Leben. Nach ein paar Jahren ziehen sie an den nächsten, damit sich die Natur am letzten wieder erholen kann. Kommen sie wieder an den ersten Ort zurück, so konnte es zumindest noch vor wenigen Jahren im Bundesstaat Mato Grosso passieren, dass ihr Land gerodet war. Ein landwirtschaftliches Unternehmen hatte es sich einverleibt und ließ es durch bewaffnetes Personal sichern. Der Bundesstaat tat nichts dagegen, die Agrarlobby hat großen Einfluss. Ebenso startete die Agrarindustrie Öffentlichkeitskampagnen, in denen gesagt wurde, dass es nicht sein könne, dass 2% der Bevölkerung 60% des Landes besäßen. Dabei könne sie, die Agrarindustrie, den Hunger auf der Welt besiegen. Darüber hinaus gab es öffentlich kursierende Todeslisten. Indigene, die sich gegen die Landnahme wehrten, wurden gezielt durch Killerkommandos, die aus Paraguay kamen, ermordet.
Der Xingu
Die Region Xingu, am Oberlauf des Rio Xingu im Bundesstaat Mato Grosso ist ein großes Schutzgebiet für indigene Völker. Die Existenz ist den Gebrüdern Villas Bôas zu verdanken. Einst mit Expeditionen zur Erkundung von Land unterwegs, kamen sie in Kontakt mit indigenen Völkern und setzten sich für deren Rechte ein. 1961 wurde der Xingu-Nationalpark, ein über 27.000 km² großes Schutzgebiet eingeweiht.
Von der brasilianischen Regierung wurde der Xingu aber auch genutzt, um Völker dorthin umzusiedeln und damit ihr bisheriges Land für Bodenschätze und Landwirtschaft zu nutzen.
Die Weißen stellten immer ihre Sichtweise dar wie auch bereits Hans Staden in seinem Buch. Von November 2022 bis April in diesem Jahr gab es am Instituto Moreira Salles in Sao Paulo eine Ausstellung Xingu: Contatos mit Fotos und auch Videos über die Indigenen im Xingu.
Das Xingu-Gebiet, das 1961 als erstes indigenes Gebiet in Brasilien abgegrenzt wurde, beherbergt traditionelle Völker, die seit Jahrhunderten zahllosen Formen von Intervention und Gewalt ausgesetzt sind und den Kampf für die Rechte der indigenen Völker inspiriert haben. Diese Bewegungen wurden von einer Fülle von Bildern begleitet: von den Aufzeichnungen europäischer Reisender, darunter sehr vieler Deutscher, bis zu den Dokumenten der Expeditionen des brasilianischen Staates, von der ausführlichen Berichterstattung in der Presse bis zu der Revolution, die in den letzten Jahren durch die audiovisuellen Medien der Indigenen ausgelöst wurde.
Ab den 1940er Jahren gab es Fotos mit Indigenen an einer Kamera, aber nie Fotos, die von ihnen gemacht wurden. Das änderte sich erst ab 1988 als ein Verein zur Dokumentation indigener Kulturen gegründet wurde.
Die ersten bekannten Fotos von Xingu-Völkern wurden in den Jahren 1888 und 1889 bei Expeditionen deutscher Ethnologen aufgenommen. In diesen Aufzeichnungen, die in Büchern und Berichten in Europa verbreitet wurden, wurden die indigenen Völker als exotische Studienobjekte dargestellt. Man betrachtete sie, beobachtete ihr Handeln und das Gesehene mit dem eigenen Wissen vergleichend und zog daraus seine Schlussfolgerungen. Wissenschaftliches Verhalten, das verstehen will, war dies nicht, sondern eher das von Touristen.
In den 1920er Jahren wurden die ersten bewegten Bilder in der Region gedreht. Es war ein Propagandafilm für die Integration der Indigenen in das nationale Projekt. Er endet mit einer symbolischen Szene, in der eine Reihe von Indigenen in Uniformen gekleidet wird. Und dazu wird eine Karte mit der folgenden Ankündigung angezeigt: „Bald werden wir mehr von diesen Arbeitern in unserer Gesellschaft haben“.
In den 1940er Jahren produzierte der SPI (Serviço de Proteção ao Índio – Dienst zum Schutz des Indios) zahlreiche Dokumentationen, in denen sich die Ikonographie der immer häufigeren Kontakte wiederholt: die gespannte Annäherung, die Übergabe von Kleidern und Gegenständen, die Einbindung der Indianer in die Expeditionen.
Das traditionelle Territorium wird als „Wilder Westen“ bezeichnet, und seine Bewohner als „die wildesten Indianer Brasiliens“.
Die Bilder wurden vom SPI während des Marsches nach Westen produziert, der 1943 von der Regierung Getúlio Vargas mit der Begründung gestartet wurde, dass das Landesinnere besetzt werden müsse. Viele Indigene auf der Route der Expedition wurden vertrieben oder dezimiert.
1943 brach dann die Roncador-Xingu-Expedition, ein Meilenstein des Marsches nach Westen auf, um Straßen, Landebahnen und Stromleitungen in der Region Mittelwesten zu eröffnen. Die Brüder Claudio, Orlando und Leonardo Villas Bôas meldeten sich auf der Suche nach Abenteuern als Tagelöhner und stiegen zum Kommando der Expedition auf.
Die Begegnung mit den Bewohnern des oberen Xingu öffnete den Villas Bôas die Augen für die Dringlichkeit, die Lebensweise der Eingeborenen zu bewahren, die durch das Vorrücken der Expedition bedroht war. Gemeinsam mit Darcy Ribeiro, Noel Nutels und anderen legten sie 1952 dem Präsidenten Getúlio Vargas ihr Demarkationsprojekt vor.
Die Presse, die die Expedition von Anfang an begleitete, war ein wesentliches Instrument in dieser Kampagne. Sie wurde von einer Mischung aus journalistischem Gespür, wirtschaftlichem Interesse und Ufanismus (Chauvinismus =aggressiv übersteigerter Nationalismus) angetrieben.
Assis Chateaubriand, Eigentümer des Medienunternehmens Diários Associados, mobilisierte das populärste Medium der damaligen Zeit, „O Cruzeiro“. Die Zeitschrift schickte einige ihrer führenden Fotografen an den Xingu. Jean Manzon setzte den Diskurs über die Eingliederung der Indianer in die Nation in Bilder um. José Medeiros und Henri Ballot hielten Details von Begegnungen und kulturellen Konflikten fest.
Durch viel Überzeugungsarbeit, auch die Medien nutzend, schafften es die Brüder Villas Bôas doch, dass der Xingu 1961 zu einem indigenen Gebiet erklärt wurde.
Zu den 400-Jahr-Feierlichkeiten der Stadt São Paulo im Jahr 1954 wurden Indigene aus dem Xingu geflogen. Vor der Landung mussten sie sich dann Hemden und Hosen anziehen, um als „Menschen“ zu erscheinen.
Indigene Kinder werden in Schulen zu echten Brasilianern gemacht
Übersetzung:
„Das 1961 abgegrenzte Gebiet war eine beispiellose Errungenschaft, wenngleich es viel kleiner war als im ursprünglichen Projekt vorgesehen. Es umfasste nicht einmal die Quellen des Xingu-Flusses. Ganze Bevölkerungsgruppen waren den Arbeiten der Regierung und den Schikanen der Bergleute und Viehzüchter ausgesetzt. In den folgenden Jahren organisierten die Villas Bôas die Umsiedlung eines Teils dieser Bevölkerungsgruppen in das abgegrenzte Gebiet.“
Die Umsiedlung rettete zwar Leben, griff aber abrupt in den Alltag der Menschen ein, die aus anderen Kulturkreisen stammten. Jahre später kehrten einige von ihnen, wie die Panará und Khisêtje, in ihre traditionellen Gebiete zurück. Andere nicht, wie die Ikpeng. In dem Film „Pirinop – Mein erster Kontakt“ erinnern sie sich an die Auswirkungen des Wandels und überlegen, wie sie ihr Land zurückerobern können.
Das Netzwerk Xingu+
Ende der 1980er Jahre, mit dem Ende der Diktatur in Brasilien gründete sich das Netzwerk Xingu+
Es besteht aus Organisationen indigener Völker, Verbänden traditioneller Gemeinschaften und Institutionen der Zivilgesellschaft aus dem gesamten Xingu-Einzugsgebiet in den Bundesstaaten Mato Grosso und Pará. Eines seiner Hauptziele ist die Ausbildung junger indigener Kommunikatoren mit Unterstützung des Instituto Socioambiental. Sie dokumentieren das tägliche Leben in den Dörfern, die Umweltzerstörung und politische Demonstrationen und verbreiten die Bilder hauptsächlich über soziale Netzwerke.
Symbole des Kampfes
In den letzten Jahren der Diktatur- Ende der 80er Jahre – , als die indigene Bewegung in Brasilien an Stärke gewann, wurde der Xingu als Symbol dieses Kampfes bestätigt. In dem vor zwei Jahrzehnten abgegrenzten Gebiet wuchs die Bevölkerung, und die traditionellen Lebensweisen wurden gestärkt. In den frühen 1980er Jahren erregten die Proteste in den Dörfern für ihre Rechte die Aufmerksamkeit des Landes.
Bei der Re-Demokratisierung war das Beispiel des Xingu ausschlaggebend für eine historische Errungenschaft: Die Verfassung von 1988 enthielt zum ersten Mal ein Kapitel über die Rechte der Indigenen. Während der Verhandlungen reisten Raoni Métyktire und andere Xingu-Anführer nach Brasília, um ihren Standpunkt darzulegen. Der Schriftsteller und Aktivist Ailton Krenak, der bei diesen Verhandlungen anwesend war, sagt, dass der Xingu die Forderung nach weiteren Abgrenzungen inspiriert hat: „Es ist, als ob wir sagten: ‚Es kann nicht weniger als das sein.
Am 4. September 1987 hielt Ailton Krenak, Sprecher der entstehenden indigenen Bewegung eine historische Rede, mit der es gelang, die indigenenfeindliche politische Situation in dieser Legislaturperiode des Nationalkongresses umzukehren. Die eindringliche Äußerung von Ailton Krenak, die vom Geist der Geste der Trauer begleitet wurde, war ein entscheidender Akt für die Annahme der Artikel 231 und 232 in der Bundesverfassung von 1988 durch die verfassungsgebenden Abgeordneten. Während seiner eindringlichen Rede färbte er sich sein Gesicht mit schwarzer Farbe ein:
Seit dieser Zeit sind die Indigenen immer wieder aktiv in der Öffentlichkeit zu sehen. Sie organisieren große Demos, so auch vor dem Parlament in Brasilia, laden ein zu Kulturevents in ihren Dörfern oder führen welche in den Städten durch. Meist gibt es bei den Kulturveranstaltungen auch politische Aussagen. So auch sehr häufig, dass ihr Land nun endlich demarkiert wird, also den Indigenen wieder übergeben wird.
Frauen sind Teil der Gesellschaft
Am Berg Pico Jaraguá am Rand der Metropole von Sao Paulo kämpfen die Indigenen um ihr Land, wollen, dass es demarkiert wird. Mit dem Erscheinen der Weißen wurden sie vertrieben, denn hier gab es damals Gold. Heute leben sie in sechs Dörfern im von den Weißen ungenutzten Wald rund um den Berg. Nun gibt es Interessen, exklusive Wohngebiete am Berg zu errichten.
Frauen sieht man immer wieder ganz vorne bei Veranstaltungen und Demos, teils auch in Federschmuck. Man merkt, dass ihr Glaube an die Naturgesetze, dass alles nur zusammen funktioniert und daher geachtet werden muss, funktioniert. Bei nicht wenigen Völkern gibt es auch Kazikinnen, also Anführerinnen.
Unter der jetzigen Regierung gibt es das erste Mal ein Ministerium für Indigene Belange, besetzt durch eine Frau, Sônia Guajajara, eine Umweltaktivistin, Menschenrechtsaktivistin und Kazikin der Guajajara.
Fotos einer „Modenschau“ an der Universität UniCamp in Campinas . Ich konnte mir nur schwer etwas darunter vorstellen. Während des Events wurde mir klar, was es bedeutet. Es wurden auch politische Forderungen gestellt, die Modenschau war eigentlich nur „Beiwerk“.
Und noch etwas faszinierte mich. Zum Fotografieren stelle ich mich immer so hin, dass ich niemandem die Sicht nehme, meistens stehe ich irgendwo am Rand. Während der gesamten Veranstaltung gingen Indigene vor mir vorbei und alle, ohne Ausnahme, passierten gebückt, um mich nicht beim Fotografieren zu stören. Das kenne ich nicht in unserer Gesellschaft. Sie leben Gemeinschaft, mit Rücksicht auf andere. Dieses Erlebnis wirkte noch lange auf mich nach.
Der Kampf ist endlos. Vor einigen Jahren wunderte ich mich, dass Norwegen der größte Finanzier von Wiederaufforstung ist. Ich fragte mich warum, bis ich herausfand, dass das Land ganz gewaltig im Bergbau in Amazonien involviert ist. Es ist also ein Greenwashing, was betrieben wird. Nicht nur Norwegen tut dies.
Unter der Regierung Bolsonaros wurde die Jagd auf Land und Bodenschätze praktisch völlig freigegeben. Man drang vor bis hin zu isoliert lebenden Völkern, so auch Evangelikale aus den USA. Im Bundesstaat Amapá explodierte die illegale Goldsuche. Indigene wurden ermordet, viele mit Malaria und anderen Krankheiten infiziert, eine Gesundheitsversorgung gab es nicht mehr.
Und neben den USA haben auch europäische Staaten bis hin zur EU selbst mit der brasilianischen Regierung verhandelt, um den Bergbau zu forcieren. Die USA forderten gar dies mit der Begründung, dass sie nur so ihre Klimaschutzziele einhalten könnten. Wie verlogen und zerstörerisch ist dies? Wie kann man nur von oben herab über andere Völker bestimmen? Ebenso deutsche Banken investieren in diese „Nachhaltigkeit“.
Ich habe dazu zwei Artikel eines brasilianischen Journalisten übersetzt, der international einen Namen hat:
Ausländische Botschafter bei Freigabe von indigenem Land für den Bergbau beteiligt
Lernen von anderen
Teils nach Anmeldung kann man auch indigene Dörfer besuchen. Vor einigen Jahren besuchte ich das Dorf Aldeia Krukutu an einem Stausee der Stadt Sao Paulo. Olivio Jekupe, einen der Anführer kannte ich von seinen Lesungen an der Universität in Campinas. Er ist ein bekannter Schriftsteller in Brasilien. (Wikipedia: Olívio Jekupé ). Danach nahm ich mehrfach Freunde mit dorthin.
Olívio erzählt, dass sie immer wieder aufgefordert werden, doch in die Stadt zu ziehen. Doch wir sollten doch einmal unser Leben anschauen: den ganzen Tag rennen wir, um Dinge zu erledigen, am Abend sind wir geschafft. Sie selbst kümmern sich am Vormittag um ihre Anpflanzungen und ihre Hütten, am Nachmittag haben sie Zeit für Familie und Freunde. Er zeigt uns Personen, die über 70 Jahre alt sind. Sie wirken deutlich jünger, haben kein einziges graues Haar. Immer müssten sie sich ausweisen, wenn sie irgendwo für Personen der 3. Generation anstehen. Mit über 60 Jahren wird man an Kassen und vielen weiteren Orten bevorzugt bedient. Wir gehen durch das Dorf und sehen das Leben live.
Was kaufen wir uns alles, um ein angenehmeres Leben zu haben? Rauben uns nicht viele Dinge Zeit? Zeit, um für den Kauf das Geld zu haben, Zeit für Pflege und Reparatur, Wertverlust für Sachen, die wir besitzen, jedoch wenig nutzen? So auch ein Auto, das 90% der Zeit herumsteht?
Auf der Rückfahrt sah ich jedes Mal alle meine Freunde mit nachdenklichen Gesichtern.
Dörfer besuchen und mit den Menschen sprechen, lässt uns viel lernen. Sie leben mit der Natur, wollen sie nicht beherrschen, profitieren aber von ihr. Und die meisten Völker leben demokratisch. Alle sind gleichberechtigt und es werden gemeinsam Entscheidungen getroffen. So zum Beispiel auch, wenn jemand Geld außerhalb des Dorfes verdient. Die Dorfgemeinschaft diskutiert, wieviel an die Gemeinschaft abgegeben wird. Es ist eine Art Steuer. Und auch die Gebäude sind Eigentum der Gemeinschaft. Niemand hat ein größeres Haus, daher strebt auch niemand danach, ein größeres als der Nachbar zu besitzen.
Sie verwenden Medikamente, die sie seit Jahrhunderten kennen. Ich hatte einst eine Entzündung in der Fußsohle, konnte kaum gehen und nach zwei Monaten spürte ich trotz Medikamenten keine Besserung. Dann war ich in einem Dorf der Pataxós. Neben Kunsthandwerk sah ich etwas in Gläsern und fragte, was das sei. Ein Mittel gegen Entzündungen war die Antwort. Ich kaufte ein Glas „Amescla“ und rieb mir abends meine Fußsohle ein. Dreißig Minuten später fühlte sich mein Fuß sehr leicht an, ich hätte springen können! Das Mittel half und nach zwei Wochen war die Entzündung völlig geheilt!
Vor Jahren sah ich einen Baum, der seine Rinde abwarf. Er sah schön aus, ein frisches Grün kam zum Vorschein. Eines Tages fand ich den Namen des Baums heraus und recherchierte. Der Pau Mulato wirft jedes Jahr seine Rinde ab und alle indigenen Völker von Venezuela bis Paraguay verwenden sie. Sie hilft bei Entzündungen und Verletzungen, verringert Narbenbildung, wird gegen Faltenbildung verwendet, ebenso als Sonnen- und Insektenschutzmittel. Aber auch zur Behandlung von Diabetes wird sie verwendet, in Paraguay ist Pau Mulato dafür offiziell zugelassen. Freunde von mir mit Diabetes testeten den Tee und sie waren überrascht. Der Glaube an die Pharmaindustrie ist wirklich zu groß, um auch einmal nach Alternativen zu schauen. Der Baum selbst wird gerne in der Landschaftsarchitektur eingesetzt, die medizinischen Potenziale kennt niemand. Dazu kann nichts ökologischer sein als dies. Etwas mehr dazu gibt es in meiner Linkliste.
Intellektuelle Indigene
Indigene sind primitiv, einfache Menschen. Das ist doch meist die Meinung der Weißen über sie. In Brasilien steht Rassismus zwar unter Strafe, jedoch trifft dies nur offenen Rassismus. Er existiert latent. Vor Jahren war ich einmal zu einer Hochzeit mit fast 300 Gästen eingeladen. Ich sah einen einzigen Schwarzen. Er hatte es geschafft. Später merkte ich, dass Indigene noch unterhalb der Schwarzen gesehen werden, wollen sie sich doch weniger an das Leben der Weißen anpassen.
Dabei gibt es natürlich viele Intellektuelle, die zeigen, dass sie nicht schlechter oder dümmer sind.
Ailton Krenak, der mit seiner Aktion 1987 Einfluss auf die neue Verfassung hatte, ist einer von ihnen. Es ist faszinierend, ihm zuzuhören oder seinen Stil des Schreibens zu lesen. Dabei kam er erst mit 17 Jahren in die Stadt, lernte Portugiesisch, wurde Journalist und Aktivist, Schriftsteller. Bücher von ihm wurden auch in andere Sprachen übersetzt. (Goethe Institut: Ailton Krenak) Siehe auch Linkliste.
Wegen des Baus des Staudammes Belo Monte bekam ich viele Kontakte zu Indigenen, so auch zur heutigen Ministerin Sônia Guajajara. (Wikipedia)
Marcia Kambeba kam mit acht Jahren von ihrem Dorf an der kolumbianischen Grenze in eine Stadt, wo sie zur Schule ging. Später studierte sie Geografie und machte ihr Diplom. Sie ist nebenbei Buchautorin, Poetin und Fotografin, ist in ganz Brasilien zu Veranstaltungen eingeladen. Manchmal publiziert sie täglich tolle und umfangreiche Gedichte. Vor ein paar Jahren durfte ich sie persönlich auf einem Event erleben und kennenlernen. Es war faszinierend. Die Menschen schauten sie während ihrer Präsentation gebannt an. Und wenn jemand eine Frage stellte, während sie sang oder redete, so hörte sie diese und antwortete hinterher.
Die vergangenen vier Jahre war sie Bürgerbeauftragte der Stadt Belém, der Hauptstadt des Bundesstaates Pará. Sie hat einen authistischen Sohn, mit dem sie viel Zeit verbringt und einiges gemeinsam macht. Woher sie so viel Energie hat, ist mir schleierhaft. Es ist bewundernswert. Noch nie erlebte ich solch eine charismatische Person. (Artikel in der taz vom 02.06.2023)
Ein Eindruck:
Während der Corona-Pandemie gab sie mir viele Kontakte zu indigenen Dörfern, um mit Spenden diesen Menschen zu helfen. Eines Tages, nach 11 Spenden, fragte sie mich, ob ich auch ihrem Volk helfen könne. Sie hatte Hemmungen, darum zu bitten und natürlich war das möglich! Hier mehr dazu:
https://gruen4future.de/2020/12/11/die-zwoelfte-spende-fuer-indigene-voelker-in-brasilien/
Durch sie lernte ich auch Daniel Munduruku, einen der wichtigsten und der im Ausland bekannteste brasilianische Schriftsteller indigener Herkunft kennen. (Wikipedia)
Olívio Jekupe, einer der wichtigsten Vertreter der indigenen Literatur Brasiliens, beschrieb ich schon zuvor in Bezug auf die Besuche des Dorfes. Sein Sohn übrigens, Jekagua Mirim, ist Schriftsteller und Rapper, in Frankreich recht bekannt. Während der Eröffnungsfeier der Fußball-WM in Brasilien im Jahr 2014 zeigte er im Stadion ein Banner „Demarkation jetzt“. Leider wurde diese Szene bei der Ausstrahlung beschnitten.