Besserwessi und darüber hinaus

Wer erinnert sich an den Begriff „Besserwessi“? Nach der Wende und der Wiedervereinigung Deutschlands traten viele Westdeutsche gegenüber den Ostdeutschen als diejenigen auf, die alles besser wissen. Natürlich wussten die Wessis etwas mehr als die Ex-DDRler über das Leben in der Bundesrepublik, wie manche Dinge im Westen funktionieren.

Aber störend war das Auftreten vieler, nämlich von oben herab schauend oder Mitleid zeigend. Auf Augenhöhe etwas erklären oder jemanden einfach begleiten, das können viele leider nicht.

Es beginnt ja schon in unserem eigenen Umfeld. Wie schauen wir jemanden an, der einfacher als wir lebt? Oder wie betrachten wir jemanden, der auf der Straße lebt? Wissen wir warum der Mensch in dieser Situation ist? Manche von uns könnte es auch eines Tages erwischen, was wir schon im Blick haben sollten. Wie würden wir dann behandelt werden wollen?

Nur wer etwas weiß, ist gut und hat die Person gar mehr Wissen als andere, so ist sie jemand besseres? Dies können wir oft erleben. Wissen wir denn alles? Definitiv nicht und jeder hat Wissen von Dingen, das anderen fehlt.

Sind wir jemand besseres?

Und es hört ja nicht bei Wessi/Ossi auf, sondern wir fühlen uns als etwas Besseres gegenüber einem Großteil der Welt. Dazu kommt noch der Stolz, deutsch zu sein.

Seit Anfang der 70er Jahre reisten viele mit ihren Familien in den Sommerferien nach Italien, nach Spanien oder sonst wohin. Wir konnten es uns leisten. Deutschland hatte einen guten Ruf, was die Qualität von Produkten betraf, viele verdienten genug. Und wer konnte, verreiste auch noch in den Skiurlaub.

Italiener und andere waren hingegen „arme Würstchen“, die zum Arbeiten gar nach Deutschland kamen. Hier brauchte man Leute für die niederen Arbeiten.

Wir haben Ahnung und wollen gut leben, immer mehr Geld verdienen, um konsumieren und besitzen zu können. Kaufen wollen wir möglichst günstig und da passt es uns, wenn Kleidung zum Beispiel aus Indien kommt. Tun wir denen nicht etwas Gutes, nämlich dass sie Arbeit haben? Dass die Menschen mit dem Geld kaum überleben können, ist ja wohl nicht meine Sache? Ähnlich ist es bei anderen Produkten, wie Kakao und Bergbau in Afrika. Es gar reichlich Kinderarbeit und Sklaverei.

Kennen wir denn die Länder, in denen wir waren?

Wir sollten einmal darüber nachdenken. Was kennen wir von den Ländern, die wir besucht haben? Sind es nur die touristisch interessanten Orte? Welche Menschen trafen wir im Hotel und wo lag dieses in der Stadt? Sind wir gar mit Reisegruppen unterwegs gewesen?

Trafen wir dort die einheimische Bevölkerung? Waren wir in einem Stadtteil, wo wir sehen können, wie die Mehrheit der Menschen lebt? Und wie schauen wir uns die Menschen an? Wie nah kommen wir ihnen denn?

Das sind viele Fragen. Aber zum Kennenlernen gehört halt einfach mehr.

Länder und Menschen kennenlernen

Um ein Land kennenzulernen, reicht ein Urlaub für einige Eindrücke, zum Kennenlernen bedarf es mehr. Aber selbst bei diesem doch recht kurzen Besuch sollte man sich unter die Bevölkerung mischen, ihre Lokale besuchen und dann kommt man häufig auch in Kontakt mit ihnen. So lernt man die Menschen, ihre Kultur und ebenso ihre Lebensumstände kennen. Man fühlt sich gut dabei!

Während meiner Kindheit in Hong Kong sah ich Elend aus dem Auto meiner Eltern heraus, wenn wir durch die Stadt und Region fuhren. Ich hatte Freunde aus der ganzen Welt, einen Schwarzen aus den USA, Chinesen, mein bester Freund kam aus Neuseeland, …

Mein Traum war seitdem, die Welt kennenzulernen und mit 18 Jahren begann ich eine Ausbildung bei der Seefahrt. Natürlich machte ich in den Jahren auch Ausflüge zu touristischen Orten, flog mit dem Hubschrauber über New York, fuhr Ski in Südchile und mehr. Das gehörte dazu. Aber regelmäßig durchstreifte ich die Städte, ging in die Lokale, wo ich die „normalen“ Menschen traf. Und es ist nicht verkehrt, nicht „overdressed“ zu erscheinen.

In Arbeitskleidung an Land in Pandjang, Indonesien

Nichts „Besseres“ sein als die Menschen:
In Arbeitskleidung an Land in Pandjang, Indonesien.

Eine Stewardess fragte mich einmal in Callao (Peru), ob ich in jenes Lokal gehen wollte. Ich sagte ihr, dass der Lehmboden picobello sauber sei und ich daher sicher sei, dass es die Küche ebenfalls ist. Sie ging in der Regel in 4-Sterne-Hotels, wo der Gästebereich natürlich sauber ist. Öfters erlebte ich, dass sie am nächsten Tag am Leiden war. Und welche Menschen traf sie dort?

In Kolumbien traf ich zum Beispiel hochintelligente schwarze Menschen, die keine Chance im Leben hatten, weil deren Eltern keine Schulbesuche bezahlen konnten. Was konnte ich mich glücklich schätzen, dass ich in Deutschland aufwuchs und das staatliche Schulsystem besuchen konnte.

In Togo wurde ich einmal von einer Familie zu sich zum Abendessen in einem Armenviertel eingeladen. War das eine Ehre für mich! Unvergesslich und interessant!

Maersk Bravo - Dorf in Togo mit Vodoo-Artikeln (1987)

MS Maersk Bravo – Dorf in Togo (1987)

Viele Erfahrungen sammelte ich in den verschiedensten Ländern, so auch in Chile unter der Diktatur Pinochets. Nachts hörte man die Schüsse des Militärs in den Straßen, einmal durfte ich in den Lauf einer MP schauen. aber ich hatte auch sehr gute Gespräche mit vielen Menschen. Einmal auf einem Weinfest bekam jemand heraus, dass wir Deutsche waren. SIe bezahlten alles, was wir konsumiert hatten, obwohl wir ein Mehrfaches als sie verdienten. Wir hatten keine Chance. Ist das nicht ein schönes Gefühl, das man erfährt?

Meine Reisen eingezeichnet
Bild von Clker-Free-Vector-Images bei Pixabay

Lernen von anderen Lebensweisen

Ich lernte, dass Arme solidarischer sind, sie helfen sich untereinander, bedanken sich für jede Kleinigkeit von Herzen. Auch ich erhielt einmal eine Hilfe, brauchte dann eine Woche, bis ich glaubte, dass das wirklich passiert war.

Heute habe ich einige Kontakte zu Indigenen verschiedener Völker, auch mit Intellektuellen unter ihnen bin ich befreundet. So etwas gibt es! Warum schauen wir auf sie herab? Wir können immer einiges von anderen lernen, also unser Denken und Verhalten verbessern. Nicht alle indigenen Völker sind gleich, logisch. Aber die Regel ist, dass es keinerlei Diskriminierung gibt, niemand muss um seine Rechte oder um Gleichberechtigung kämpfen und es gibt viele weibliche Anführerinnen. Und Sônia Guajajara, die ich seit Jahren kenne, seit Januar 2023 Ministerin ist, wurde vom Time Magazine 2022 zu den weltweit einflussreichsten Menschen gezählt.

SESC Pompeia SP: A Amazônia: Da Proa da Canoa (Márcia Wayna Kambeba)

Die charismatische Fotografin, Schriftstellerin und Poetin Marcia Kambeba

Marcia Kambeba kam mit acht Jahren aus ihrem abgelegnene Dorf in die Stadt, lernte portugiesisch, studierte Geografie und begann zu fotografieren und Bücher zu schreiben.  Manchmal publiziert sie täglich tolle Gedichte, die nur so aus ihren Fingern fließen.  Auf Veranstaltungen sind alle Menschen in ihrem Bann und selbst, wenn sie redet, hört sie Fragen von anderen, beantwortet diese hinterher. Nebenbei war sie einige Jahre Ombudsfrau der Millionenstadt Belém. Und während der Pandemie gab sie mir viele Kontakte für Spenden an indigene Gemeinden. Eines Tages fragte sie mich, ob eine Spende an ihr eigenes Volk auch möglich wäre. Da hatte sie Hemmungen. Nun ist sie dabei ihren Dr.-Titel zu erlangen.

Letztes Jahr war ich auf einem indigenen Event an einer großen Uni und fotografierte. Dabei sehe ich immer zu, dass ich niemanden störe, vor jemandem stehe und die Sicht beeinträchige. Was ich hier erlebte, machte mich sprachlos: immer wenn ich die Kamera zum fotografieren hob, dann gingen die Indigenen gebückt an mir vorbei, ohne Ausnahme. Sie haben die Augen offen, nehmen Rücksicht auf ihre Umgebung, hier gibt es keinen Egoismus und keine Abgehobenheit. War das schön zu sehen! So funktioniert eine Gesellschaft sehr gut!

Event Indigener an der UniCamp, Campinas

Event Indigener an der UniCamp, Campinas

Von Fotografen würde ich so etwas ebenfalls erwarten. Doch war ich einige Male mit welchen auf Tour und sie laufen mit Scheuklappen herum, stellen sich vor die Linsen anderer. Das ist doch unter uns üblich. Erst komme ich…

Für mehr Frieden: bereit sein, Dinge zu respektieren und vielleicht auch anzunehmen

Wir können wirklich viel lernen, wenn wir unsere Nase senken und Menschen auf Augenhöhe begegnen. Auch wir selbst profitieren dabei sehr viel!

Dieses sich als etwas Besseres fühlen, ist kein rein deutsches Verhalten. Es ist vor Allem bei Weißen zu sehen. Und dass wir uns als etwas Besseres fühlen, liegt an unserer Erziehung, an unserem System. Dieses von oben Herabschauen ist Grundlage für Vorurteile, bis hin zu Rassismus, Hass und gar Gewalt!

Besser werden wir nur, wenn wir die Augen öffnen, bereit sind zu lernen. „Nur gemeinsam sind wir stark“ lernten wir einst als Kinder. Warum haben wir das vergessen? Kinder haben in der Regel noch keine Vorurteile, sie bekommen diese anerzogen.

Lasst uns besser werden! Durch ein anderes Auftreten und Verhalten reduzieren wir Konflikte. Ebenso schadet es nicht, sich einmal zu entschuldigen, wenn man einen Fehler gemacht hat. Niemand ist perfekt. Und wer meint, dass sich entschuldigen Schwäche bedeutet, der irrt gewaltig. Es ist nämlich genau umgekehrt. Größe ist, Fehler einzugestehen und eventuell wieder etwas gutzumachen.

Es gibt gute Beispiele

Manche bezeichnen sich als Fans von Hans-Christian Ströbele, der immer auf Augenhöhe mit den Menschen war, immer ansprechbar war, zuhörte und antwortete. Immer war er mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs, erreichbar. Warum macht man es ihm als „Fan“ nicht gleich? (Wer war Hans-Christian Ströbele? Erinnerungen…)

Dann gab es vor ein paar Jahren den Präsidenten von Uruguay, Pepe Mujica. Er machte Politik mit den Menschen, mit allen. Versprechen gab es nicht, sondern es wurde realisiert, was die Menschen wollten. Als Präsident  fuhr er weiter mit seinem VW-Käfer, spendete 90% seines Präsidentengehaltes und hielt sich viel unter den Menschen auf, sprach mit ihnen. (Pepe Mujica: Was wir kaufen, bezahlen wir nicht mit Geld …)

Gerade heute, in Zeiten des für die Menschheit gefährlichen Klimawandels, sollten wir einmal über uns nachdenken.

Ach, noch etwas: Selbst Tieren gegenüber sind wir abgehoben, obwohl wir ein soziales Verhalten zumindest von Haustieren kennen.  Eine neue Studie über Affen zeigt, dass wir noch viel lernen müssen. Und ganz sicher endet se nicht bei Affen, sondern auch bei sehr vielen anderen Tieren:

Laut einer neuen Studie erinnern sich Menschenaffen wie Schimpansen und Bonobos an ehemalige Gruppenmitglieder – selbst wenn sie diese vor Jahrzehnten zuletzt gesehen haben. Auch an die Qualität der Beziehung erinnern sich die Tiere.

weiterlesen bei Tagesschau

Studie: Bonobos and chimpanzees remember familiar conspecifics for decades

While human social memory lasts decades and tracks relationships, less is known about nonhuman ape long-term memory.We present evidence that both chimpanzees and bonobos recognize the faces of familiar conspecifics even after many years of separation. An eye-tracking task revealed that apes’ attention was biased toward former groupmates over strangers, and this pattern may persist for at least 26 y beyond separation. Apes’ memory may also represent the quality of their social relationships: Apes looked longer toward individuals with whom they had more positive relationships.Thus, critical properties of human memory may reflect deep homologies with other apes, likely providing the foundation for the emergence of complex cooperative relationships that operate across long time-scales.

continue reading at PNAS, one of the world’s most-cited and comprehensive scientific journals

 

Vortrag „Indigene und die Weißen in Brasilien“ hier…

 


Um die Entwicklung bei den einzelnen Themen zu sehen,
die Schlagwörter zu früheren Beiträgen:

Permanentlink zu diesem Beitrag: https://gruen4future.de/2023/12/22/besserwessi-und-darueber-hinaus/